Rechtsnormen: § 2 AMG, § 21 AMG; Art. 1 Nr. 2 lit. b der EG-RL 2001/83

Mit Urteil vom 20.06.2013 (Az. 6 U 109/07) hat das OLG Frankfurt a.M. entschieden, dass eine Mundspüllösung, deren Wirkstoff (Chlorhexidin) den bakteriellen Zahnbelag reduziert und damit der Entstehung von Gingivitis vorbeugt, als Funktionsarzneimittel einzuordnen ist, soweit der Wirkstoff in einer Menge enthalten ist, die zu einer signifikanten Beeinflussung der Körperfunktionen führt. (Leitsatz des Gerichts)

Zum Sachverhalt:

Beide Parteien vertreiben Mundspüllösungen, die Chlorhexidin enthalten. Die Beklagte vertreibt ihre Mundspüllösung ohne arzneimittelrechtliche Zulassung als kosmetisches Mittel. Zweck der Mundspüllösung ist es, bakteriellen Zahnbelag zu reduzieren und dessen Neubildung zu hemmen. Die Klägerin behauptet, bei der Mundspüllösung ihrer Wettbewerberin handele es sich um ein Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelgesetzes. Sie beantragt daher die Unterlassung der weiteren Werbung und/bzw. des Vertriebs des Produktes ohne pharmakologische Zulassung.

Das erstinstanzliche Landgericht Frankfurt a.M. (Az. 6 U 91/05) hatte die Klage im Jahr 2006 abgewiesen. Demnach komme dem Präparat der Beklagten keine pharmakologische Wirkung zu, insbesondere sei eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen von Chlorhexidin und einem zellulären Bestandteil des Anwenders nicht erwiesen. Die Berufungsinstanz bestätigte diese Entscheidung. Im Revisionsverfahren hob der BGH die Entscheidung auf (Urt. v. 05.10. 2010, Az. I ZR 90/08) und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung an das OLG Frankfurt zurück. Der BGH begründete seine Entscheidung damit, dass eine pharmakologische Wirkung auch gegeben sein könne, wenn der zelluläre Bestandteil nicht zum Körper des Anwenders gehöre. Das OLG Frankfurt setzte das Verfahren in der Folge zunächst aus und legte dem EuGH mehrere Fragen zur Auslegung des Art. 1 Nr. 2 lit. b der EG-RL 2001/83 vor. Der Senat hat daraufhin das Verfahren ausgesetzt und den EuGH angerufen. Der EuGH entschied, dass vom Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung einer Substanz im Sinne dieser Bestimmung nicht nur dann ausgegangen werden kann, wenn es zu einer Wechselwirkung zwischen den Molekülen dieser Substanz und einem zellulären Bestandteil des Körpers des Anwenders kommt, sondern dass eine Wechselwirkung zwischen dieser Substanz und einem beliebigen im Körper des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteil genügt (EuGH, Urt. v. 06.09.2012, Az. C-308/11 = GRUR 2012, 1167).

Das OLG Frankfurt folgte daher nun dem klägerischen Antrag und untersagte den weiteren Vertrieb der streitgegenständlichen Mundspüllösung. Erst nach arzneimittelrechtlicher Zulassung dürfe das Präparat wieder vertrieben werden, da es sich um ein Funktionsarzneimittel handele.

Das Gericht führt zur Begründung aus:

„Der Klägerin steht gegen die Beklagte aus §§ 3, 4 Nr. 11, 8 I UWG in Verbindung mit §§ 2, 21 I AMG, 3a HWG ein Anspruch auf Unterlassung der Bewerbung und des Vertriebs des Mittels A in der im Antrag wiedergegebenen Form zu, solange es nicht als Arzneimittel zugelassen ist. Denn es handelt sich um ein Funktionsarzneimittel.

1. Im Streitfall ist abzugrenzen, ob das Produkt als Arzneimittel oder als kosmetisches Produkt einzustufen ist. Zu den kosmetischen Mitteln gehören nach der Richtlinie 76/768/EWG (in der durch die Richtlinie 2005/42/EG geänderten Fassung) Stoffe und Zubereitungen, die dazu bestimmt sind, mit den Zähnen und den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen, um sie zu reinigen und/oder zu schützen oder in gutem Zustand zu halten. Für die Einordnung eines Produkts als Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG, der im Lichte von Art. 1 Nr. 2 lit. b der Richtlinie 2001/83/EG (in der durch die Richtlinie 2004/27/EG geänderten Fassung) ausgelegt werden muss, ist hingegen maßgeblich, ob es am menschlichen Körper angewendet werden kann, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.

2. Eine immunologische oder metabolische Wirkung kommt im Falle von Chlorhexidin nicht in Betracht. Insoweit kann auf den Senatsbeschluss vom 14.6.2011 verwiesen werden (GRUR-RR 2011, 383). Eine pharmakologische Wirkung ist hingegen auf Grundlage der Vorgaben des EuGH und des darauf bezogenen weiteren (unstreitigen) Sachvortrags der Parteien zu bejahen.

a) Für die Auslegung des Begriffs der pharmakologischen Wirkung kann die Leitlinie der Kommission zur Abgrenzung der Kosmetikrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie (Guidance Document on the demarcation between the Cosmetic Products Directive 76/768 and the Medicinal Products Directive 2001/83 as agreed between the Commission Services and the competent authorities of Member States) berücksichtigt werden (EuGH, Urt. v. 6.9.2012, C-308/11, Tz. 25, 26). Auf die Leitlinien der Kommission zur Abgrenzung von Arzneimitteln und Medizinprodukten (Medical Devices: Guidance document) kommt es hingegen nach Ansicht des EuGH nicht an.

Die Leitlinien zur Abgrenzung der Kosmetikrichtlinie von der Arzneimittelrichtlinie gehören zwar nicht zu den Rechtsakten der Union und sind deshalb nicht rechtlich bindend. Das nationale Gericht kann ihnen jedoch Anhaltspunkte entnehmen. Es muss allerdings selbst überprüfen, ob die ihnen entnommene Auslegung im Einklang mit der Richtlinie steht, die anhand der Kriterien zur Auslegung der Rechtsakte der Union zu interpretieren ist.

b) Eine pharmakologische Wirkung setzt nach der Leitlinie eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen der infrage stehenden Substanz und einem zellulären Bestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, voraus, die entweder in einer direkten Reaktion resultiert oder die Reaktion eines anderen Agens blockiert.

Mit zellulärem Bestandteil ist nicht notwendig ein zellulärer Bestandteil des Menschen gemeint. Vielmehr kann die Wechselwirkung mit anderen im Organismus des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteilen wie Bakterien, Viren oder Parasiten genügen. Diese Auslegung steht im Einklang mit der Richtlinie (EuGH, a. a. O. Tz. 29, 31).

c) Im Streitfall ist eine Wechselwirkung des Wirkstoffs Chlorhexidin mit Gingivitis auslösenden Bakterien in der Mundhöhle gegeben. Eine pharmakologische Eigenschaft liegt damit vor. Entgegen der Ansicht der Beklagten fehlt es auch nicht an einer direkten Reaktion, weil der Körper von der Unschädlichmachung der Bakterien zunächst unbeeinflusst bleibt.

Die Voraussetzung der direkten Reaktion bezieht sich auf den zellulären Bestandteil, hier also auf die Bakterien. Außerdem hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 07.04.2011 unstreitig gestellt, dass durch die Reduzierung bakteriellen Zahnbelags die Entstehung von Gingivitis wirksam vorgebeugt wird. Insoweit wird auch der Körper beeinflusst.

3. Die Frage, ob ein Funktionsarzneimittel vorliegt, ist damit allerdings noch nicht beantwortet. Hierfür muss das Produkt aufgrund seiner Zusammensetzung – einschließlich der Dosierung seiner Wirkstoffe – bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktionen des Menschen in signifikanter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen. Hierbei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann (EuGH, a. a. O., Tz. 34, 35).

a) Bei dem streitgegenständlichen Produkt führt die pharmakologische Wirkung zu einer nennenswerten Beeinflussung der physiologischen Funktionen des Körpers. Es fehlt nicht deshalb an der Signifikanz der Beeinflussung, weil die Wirkstoffkonzentration nur 0,12% beträgt. Nach der eigenen Werbung der Beklagten(vgl. Anlage K7, S. 7) bietet ihre 0,12% CHX- Mundspüllösung den gleichen klinischen Nutzen wie eine 0,2%ige.

Die Wirkung (wie eine 0,2%ige) entspricht somit der Monographie des Bundesgesundheitsamts aus dem Jahr 1994, die von einer therapeutischen Wirkung 0,2%iger Chlorhexidin-Lösungen ausgeht (Anlage K4).

Die vom BGH für aufklärungsbedürftig gehaltene Frage, ob die Konzentration von 0,12% hinter der monographierten Dosierung zurückbleibt, hat sich damit erledigt.

Die Lösung kann nach der Werbung der Beklagten zur besonderen Pflege bei Zahnfleischentzündungen und bei vermehrter Plaque-Ansammlung vor und nach chirurgischen Eingriffen eingesetzt werden (Anlage B7, S. 7). Ihre Wirkung geht also über die antibakterielle Reinigungswirkung herkömmlicher kosmetischer Produkte wie etwa Zahnpasten hinaus.

b) Gegen eine Einordnung als Funktionsarzneimittel spricht – entgegen der Ansicht der Beklagten – nicht, dass in kosmetischen Mitteln Chlorhexidin in einer Konzentration von 0,3% als Konservierungsstoff enthalten sein darf (vgl. Anhang VI der Richtlinie 76/768). In dem streitgegenständlichen Produkt wird Chlorhexidin nicht als Konservierungsstoff beigefügt, also zu dem Zweck, die Entwicklung von Mikroorganismen in dem Erzeugnis selbst zu hemmen. Es sollen vielmehr bestimmungsgemäß Mikroorganismen in der Mundhöhle gehemmt werden. Zu einer solchen Verwendung des Stoffes Chlorhexidin verhält sich die Kosmetikrichtlinie nicht. Als Konservierungsstoff enthält das Produkt nach dem unwidersprochenen Vortrag der Klägerin Methylparaben und Propylparaben.“