Der BGH hat mit Urteil vom 29.10.2009 (Az. I ZR 180/07) entschieden, dass der Zeitungsvertrieb über ungesicherte Verkaufsboxen („Stumme Verkäufer“) selbst dann nicht wettbewerbswidrig ist, wenn eine erhebliche Verlustquote durch Diebstahl zu erwarten ist. Es liegt keine allgemeine Marktbehinderung vor; darüberhinaus wird die Entscheidungsfreiheit des Kaufinteressenten nicht wettbewerbswidrig beeinflusst.

Zum Sachverhalt:

Es klagten die Berliner Zeitungsverlage, die die „Berliner Zeitung“, den „Berliner Kurier“ und den „Tagesspiegel“ herausgeben gegen die Axel Springer AG, die in Berlin bezogen auf die verkauften Exemplare über einen Marktanteil von 50% verfügt und ihre Tageszeitung „Welt Kompakt“ verstärkt über ungesicherte Verkaufshilfen zum Preis von 0,70 Euro/Stück absetzen will. Unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung des BGH (vgl. BGH, GRUR 1996, 778 – „Stumme Verkäufer I“) halten die Kläger dieses Verkaufsgebaren für übertriebenes Anlocken und allgemeine Marktbehinderung, mithin wettbewerbswidrig. Die Kläger begründeten ihre Ansicht mit der zu erwartenden Diebstahls- und Schwundquote von etwa 60%, was zu einer faktisch kostenlosen Abgabe der Zeitung führe. Die beklagte Axel Springer AG gestand im Zuge einer Unterlassungserklärung den Klägern lediglich zu, auf jedem Automaten den Hinweis über dem Kaufpreis „und der Diebstahl wird verfolgt, Kontrolleure im Einsatz“ anzubringen und regelmäßige Kontrollen durchzuführen. Nun entschied der BGH, die Grenze nach § 4 Nr. 1 UWG sei erst dann überschritten, wenn die Rationalität der Nachfrage vollständig in den Hintergrund tritt. In diesem Zusammenhang sei es fernliegend, dass Kunden, die die Möglichkeit ausnutzen, Zeitungen zu entwenden, allein deshalb beim zukünftigen entgeltlichen Erwerb von Zeitungen nicht mehr rational zwischen der einen oder anderen entscheiden würden. Darüberhinaus bedürfe ein solches kriminelles Verbraucherverhalten (Diebstahl) keinen wettbewerbsrechtlichen Schutz.

Damit gibt der BGH seine frühere strenge Rechtsprechung auf.

Auch eine allgemeine Marktbehinderung sei im konkreten Fall nicht gegeben. Dennoch hält die höchstrichterliche Rechtsprechung an einer allgemeinen Marktbehinderung für andere Fälle fest: Ein Wettbewerbsverstoß liege dann vor, wenn für sich genommen zwar nicht unlauteres, aber immerhin bedenkliches Wettbewerbsverhalten allein oder in Verbindung mit gleichartigen Maßnahmen von Mitbewerbern die ernstliche Gefahr begründet, dass der auf der unternehmerischen Leistung beruhende Wettbewerb in erheblichem Maße eingeschränkt wird. In Fortsetzung seiner Urteile „20 Minuten Köln“ und „Zeitung zum Sonntag“ zu rein anzeigenfinanzierten Gratiszeitungen verneint der BGH dies auch für vorliegenden Fall. Wettbewerbsrecht gewähre demnach keinen Bestandsschutz. Die Pressefreiheit unterscheide nicht nach der Finanzierungsart der Zeitung. Daher würden selbst „Gratis-Verteilaktionen“ von kostenpflichtigen Zeitungen keinen Verstoß gegen Wettbewerbsrecht bedeuten. Erst wenn eine dauerhafte Zeitungsabgabe unter Selbstkostenpreis erfolge, sei der Fortbestand des Wettbewerbs gefährdet.

Kommentar:

Verlage müssen mit diesem Urteil „Stumme Verkäufer“ anderer Verlage nun grundsätzlich dulden. Vorliegendes Urteil beschränkt sich nicht nur auf Medien- und Presseprodukte, sondern lässt sich auf alle anderen Waren unter der Voraussetzung, dass keine abweichende Spezialnorm einschlägig ist, anwenden.